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Navid Kermani: das alphabet bis S - 14.12.23

Eine schwere Lebenskrise bewältigen, indem man die ungelesenen AutorInnen von A-Z aus dem neu zu sortierenden Bücherschrank zur Hilfe nimmt, ist eine großartige und nachahmenswerte Idee!

Genau diesen Entschluss fasst die Protagonistin in NAVID KERMANIs neuem Roman „DAS ALPHABET BIS S“. Sie ist ein weibliches Alter Ego des Autors, ihm in vielerlei Hinsicht ähnlich, aber sie lebt und liest eben mit den Sinnen einer Frau. Auch das eine faszinierende Idee, die ihm, so sagt Kermani selbst, mit Hilfe der Verfremdung eine Fülle an gestalterischer Freiheit bietet!

Geburt, Liebe, Sehnsucht, Leid, Tod – das sind die großen Themen der Literatur und deren
Bewältigung nehmen sich natürlich auch die bisher im Buchregal vergessenen Autoren an. Und
gemeinsam mit ihnen, einem Peter Altenberg etwa, einer Emily Dickinson, einer Helene Hegemann oder einem Péter Nádas, nun die (namenlose) Ich-Erzählerin des Romans: Genau 365 Tage hält sie diesen Prozess in einer Art Tagebuch fest, versucht, den Verlust ihrer Ehe und den ihrer Mutter, später die Krankheit des Sohnes schreibend zu verkraften.

Kermani bevorzugt hier den Begriff „Journal“, da nicht das Innenleben der Schreibenden nach außen gestülpt, sondern ihr Erleben des Alltags das Wesentliche wird. Das scheinbar Nebensächliche, ein Beziehungsdrama am Nebentisch beispielsweise oder die Angst der Joggerin vor dem unangeleinten Hund, wird zum Hauptsächlichen und bestimmt offenkundig zwingend dein Leben, begleitet von unheilvollen Träumen.

Die Ich-Erzählerin, die mir in ihrer schroffen und desillusionierten Art bald ans Herz gewachsen ist, stößt immer wieder an ihre Grenzen auf der Suche nach dem Erlösenden. Sie hat das familiäre Praktizieren des Islam stets abgelehnt und folgte stattdessen ihrem Vater, der an seine Arbeit glaubte und sonst an nichts. „Nun trage ich an der Einsamkeit schwer, wenn nicht einmal Gott bei dir ist.“

Aber es sind diese kleinen erlösenden Momente bei einem Anatoli Pristawkin, einer Nelly Sachs (sie gelangt in 365 Tagen nur bis zum Buchstaben S) und die überwältigende Erfahrung der Genesung ihres Sohnes, die Liebe zu ihren Eltern, zur Natur, ihrer Kultur, die schließlich den Glauben an das Leben und ihre Rolle darin Oberhand gewinnen und Träume zu Visionen werden lassen.

So kann auch ich nach der Lektüre zuversichtlich meine Lesegruft verlassen in der Gewissheit, meine ungelesenen Bücher nicht umsonst sorgsam ins Regal gestellt zu haben: Es wird der Moment kommen, an dem ich mir von Mark Aurel, Thomas Bernhard, … durch harte Zeiten helfen lasse; Navid Kermanis Roman bietet dafür eine exzellente und stilistisch ebenso ungewöhnliche wie funkelnde Vorlage.

Bleibt am Ende bloß noch die Anmerkung der Ovid-Liebhaberin, dass, hätten im Regal der Erzählerin
die Heroides statt der parodistisch angehauchten Ars amatoria geschlummert, diese eine wunderbare
Medizin für die verletzte weibliche Seele abgegeben hätten!

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